Sonntag, 31. Juli 2016

Schnell, schnell, Isabell... 12tel-Blick!



Mal wieder auf den letzten Drücker ist mein Juli-Blick entstanden. Mein Gefühl für das aktuelle Datum war noch nie gut, jetzt ist es gerade vollends im Eimer. Aber immerhin, I'm in time.
Dieses Mal leuchtet das Schilfgras im Teich zur Abwechslung in den letzten Abendsonnenstrahlen. Ich mag diesen Übergang vom Abendlicht in die Dämmerung und dann in die Nacht sehr gern. Zur Zeit kann ich leider keine größeren Spaziergänge in den Abend hinein unternehmen (so wie hier), meine "freie Stunde" am Ende des Tages führt mich immer ins Freibad, das ist mir einfach wichtiger. Einmal am Tag ein bisschen Sport muss sein. Aber auch der kleinste Garten wird von der untergehenden Sonne mit warmem Glanz verzaubert, und wenn sich das Ganze noch im Wasser spiegelt, ist es doppelt schön.



Verlinkt mit Tabea Heinicker: 12tel-Blick

Dienstag, 26. Juli 2016

Rosa



"Ich lerne viel", habe ich in einem der letzten Posts geschrieben. Das ist kein Wunder, wenn man täglich intensiv mit einer neuen Situation umgehen, auf ständig wechselnde und unvorhersehbare Ereignisse und Stimmungen reagieren muss und dabei erst allmählich herausfindet, wie das alles zusammenhängt und zustandekommt. Welches Verhalten welche Reaktion hervorruft. Wie die veränderte, verfremdete Wahrnehmung eines eigentlich vertrauten Menschen die ganze Kommunikation mit ihm verändert. 
Manchmal geschieht allerdings doch so etwas wie ein kleines Wunder, das ein ganz neues Licht auf den mühsamen Alltag mit einem Menschen wirft, der aus der Normalität und aus seiner Vertrautheit mit seinem Leben herausgefallen und dadurch zutiefst verunsichert und deprimiert ist. Ein kleines Wunder, das zeigt, wie viel seelische Kreativität trotz des unaufhaltsamen Verfalls noch in ihm steckt. 


Es hat ja eine ganze Weile gedauert, bis ich begriffen habe, dass es gar nichts hilft, einem dementen Menschen seine irrealen Vorstellungen ausreden oder ihm gar das Gegenteil beweisen zu wollen. Ein kleines Beispiel:
"Wo sind wir hier eigentlich? Ich will endlich wieder nach Hause!"
"Papa, das ist doch unser eigenes Haus!"
"Ach was, so ein Blödsinn! Das ist doch nicht mein Haus!" 
"Schau mal, da sind doch deine Möbel - deine Bücher - deine Bilder..."
"Ja, das finde ich also schon empörend, dass die das alles geklaut haben!"
(Ich überspringe einen Teil des sinnlosen Dialogs-)
"Papa, weißt du was? Wir gehen jetzt mal zur Haustür und schauen, was auf dem Klingelschild steht. Da steht doch immer der Name von den Leuten, denen das Haus gehört."
"Ja, gut, das machen wir."
Wir gehen hin und lesen, was auf dem Schild steht.
"Schau, Papa: das ist dein Name. Und das da ist meiner."
Kurze Pause. Dann Entrüstung: "Also - das ist aber wirklich allerhand...!!!"

Was in dieser Szene eher humoristisch wirkt, führte in anderen Fällen oft zu richtigem Streit. Er bestand darauf, dass ich über irgendwelche Dinge Bescheid wissen müsse, die er geträumt oder halluziniert hatte. "Aber du warst doch selbst dabei!" Wenn ich dann beteuerte, ich wisse davon nichts, dachte er, ich verschweige ihm etwas. Ich habe viel zu lange nicht kapiert, dass ich diese Konfrontationen nicht gewinnen kann und dass mein Vater daraus nur den Schluss zog, dass ich gegen ihn sei.


Wieder einmal war ich in so eine "Falle" getappt und wir waren beide erschöpft von einem längeren Wortwechsel. Plötzlich schaute er mich aufmerksam an und sagte: "Wer sind Sie denn?" Ich dachte: o je, jetzt fängt das an, dass er mich nicht mehr kennt! Während ich noch verwirrt schwieg und überlegte, was ich sagen sollte, fragte er: "Kennen Sie meine Tochter? Die Brigitte?" - "Ähm- ja, die kenne ich..." - "Das ist eine ganz Schlimme, wissen Sie. Die ist immer so von oben herab, eiskalt, kommandiert mich ständig rum... gerade war sie noch da!"
Es entspann sich ein Gespräch, in dem ich versuchte, mitzuspielen, ohne geradezu lügen zu müssen. Es war aber gar nicht so schwierig, es hatte wirklich was von einem Spiel, obwohl mein Vater es sichtlich ganz ernst nahm. Die vorherige Aufregung war ganz weg, auch ich war erleichtert und froh über die Rolle, die er mir so unverhofft zugedacht hatte. Wir saßen nebeneinander auf dem Sofa, er war sehr zutraulich und lieb und erzählte mir aus seinem Leben. Freute sich, als ich auf seine Frage antwortete, dass ich seine Frau gut gekannt habe. Er ging bald zum Du über, was es mir leichter machte. Schließlich die Frage, wo ich denn wohne? - "Ich... also ich wohne hier im Haus." Große Verwunderung: "Wenn man das früher gewusst hätte - da hätte man ja alles mögliche zusammen machen können... Das ist aber schade!"
Schließlich wurde er müde und wollte sich hinlegen. Als ich ihn zum Bett begleitete, drehte er sich plötzlich zu mir um und sagte: "Wo ist sie denn hin?" - "Wer denn, Papa?" - "Na, die - die gerade hier war - hast du sie nicht gesehen?" - "Mhmm - nein, ich glaube nicht...". Er schaute sich im Zimmer um und rief: "Rosa! Roosaa - jetzt ist sie nicht mehr da!" - Ich, ehrlich überrascht: "Ach, Rosa heißt sie?" Er nickte. Ich sagte: "Die kommt bestimmt mal wieder." Dann legte er sich hin und schlief ein.
Und ich, ich war wie - verzaubert. Ich konnte nur staunen: Wie er uns aus der verfahrenen Situation herausgeholt hatte, bestimmt ganz unbewusst, aber mit traumwandlerischer Sicherheit. Wie er es fertiggebracht hatte, mich so zu "verwandeln", dass er mich wieder mögen konnte. Mehr noch: Er hatte mir gezeigt, wie er mich brauchte. Er hatte mir beigebracht, wie man mit ihm umgehen muss. Er hatte mich gelehrt, was wirklich wichtig ist, nämlich dass ich ihn so sein lasse, wie er jetzt nun mal ist, und nicht versuche, ihn zu belehren über eine Welt, die ihm fremd geworden ist.



Und nun versuche ich eben, etwas mehr "Rosa" zu werden. Sie gefällt mir gut, muss ich sagen! Brigitte spricht schnell und bewegt sich rasch - Rosa redet ziemlich langsam und  fast ein bisschen fragend, und ihre Bewegungen sind ruhig und sachte. Die "Hoppla-jetzt komm-ich" - Art, welche Brigitte leider manchmal an sich hat, ist ihr ganz fremd. Wo Brigitte in gewissen Situationen hektisch ruft: "Neiiin, Papa, doch nicht hier!!!", bleibt Rosa ganz gelassen und holt den Wischlappen. Und anstatt irrationale Aussagen zu kommentieren, macht sie oft nur "mmmhhh..." oder "aha!" oder "o je!".
Das Beste ist, dass ich mich gar nicht so sehr verstellen muss, um "Rosa" zu sein. Sie ist ja eigentlich schon in mir drin, ich muss ihr nur öfter die Führung überlassen. Sie tut mir gut, die Rosa, und ich betrachte sie mittlerweile als ein sehr gelungenes Geschenk meines Vaters - auch wenn er sie inzwischen schon wieder vergessen hat. 

Freitag, 22. Juli 2016

Nicht nach Plan

Ich tue jetzt etwas, was ich noch nie getan habe und wohl auch nicht wieder tun werde: ich stelle einen Brief, den ich geschrieben habe, fast wörtlich in den Blog. Es ist ein Brief an unseren Doc, und er ist nicht anders formuliert als ein ausführlicher Blogpost es wäre.
Ich danke allen, die uns mit ihren Gedanken und gedrückten Daumen nahe waren - vielleicht hat diese liebevolle Energie dazu beigetragen, dass die Dinge sich so entwickelt haben, wie sie es taten und ich mir so sicher sein konnte, dass es richtig war, den Plan zu ändern.

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                                                                                                                  Freitag, 22.7.2016

Lieber Herr ... (unser geschätzter Hausarzt),

ich mach's schriftlich, dann können Sie es lesen, wenn Sie gerade Zeit dazu haben und keine Patienten deswegen warten müssen.

Am Dienstag war ich bei Ihnen, ziemlich verzweifelt wegen mehrerer durchwachter Nächte, und Sie haben für meinen Vater den Termin im Weißenhof gebucht. Außerdem sagten Sie, ich solle doch jetzt einmal dieses Schlafmittel (Zopiclon) geben und schauen, ob das nicht hilft.
Ich habe tagsüber möglichst viel geschlafen und mich ganz gut erholt. Um 19 Uhr habe ich ihm eine Tablette gegeben. Die ganze Nacht war keine Wirkung zu sehen, mein Vater war wach und wollte immer wieder aus dem Bett aussteigen (Pflegebett mit Rausfallschutz). Ich habe ihn nicht wie sonst aktiv, mit Festhalten, daran gehindert, denn das hatte immer Wut und Handgreiflichkeiten zur Folge gehabt (aus seiner Sicht verständlich, denn er fühlte sich ja eingesperrt). Ich stellte mich einfach so vors Bett, dass er nicht rauskam, ohne ihn anzufassen, und sagte nur beiläufig: „Ich bleib hier stehen.“ Zu meinem eigenen Erstaunen wirkte das Wunder, er gab bald auf und war dann wieder längere Zeit ruhig. 
Morgens gegen 7 Uhr setzte dann die Wirkung des Schlafmittels ein, er ist praktisch beim Frühstück eingeschlafen und schlief mit einer kleinen Unterbrechung etwa acht Stunden. Dann kam eine Phase, die ich vom Krankenhaus her schon kannte: zwei Stunden lang wechselten Ansprechbarkeit und plötzliches Wegdämmern in kurzen Intervallen (~minütlich). Ich hab in dieser Zeit versucht, ihn immer wieder etwas trinken zu lassen, denn durch das lange Schlafen hatte er viel zu wenig getrunken.
Zwischen 21/22 Uhr war er wach, aber sehr desorientiert, lief langsam, steif und wackelig ziellos herum, putzte fünfmal die Zähne, hatte Sprachprobleme, war unruhig, aber - da ich mich bewusst sehr zurücknahm und ihn machen ließ - friedlich. Gegen 23 Uhr ging er zielgerichtet in sein eigenes Bett (nicht ins Pflegebett) und schlief, mit einer Unterbrechung durch Toilettengang, bis früh um sieben! Dann wach, leicht desorientiert, aber fügsam: Waschen, Toilette, Frühstück
. Jetzt sichtlich ohne die Nebenwirkungen des Schlafmittels, mit klarem Blick und verständlicher Sprache.
Das war der Moment, wo ich mir sicher war, dass ich ihn jetzt nicht aus diesem friedlichen Zustand rausreißen und in eine fremde, für ihn äußerst furchteinflößende Umgebung mit lauter fremden Menschen bringen kann. Es wäre genau das passiert, was im Krankenhaus schon passiert ist: Panik, Aggression, Fluchtversuche, Sedierung, möglicherweise Atemprobleme, er kann sich nicht verständlich machen... usw. Außerdem hatte ich den Eindruck, dass sowohl Beruhigungs- als auch Schlafmittel den ohnehin labilen Tagesrhythmus noch mehr durcheinanderbringen. Am meisten erschreckte mich die lange anhaltende Störung des Gleichgewichts, die Benommenheit und die massiv gestörte Sprache. 
Dazu kam, dass ich am Abend zuvor einen Anruf von einer Kollegin bekommen hatte wegen einer ganz anderen Sache, nur zufällig kamen wir auf meinen Vater zu sprechen. Sie hatte ihre Schwiegermutter betreut, während diese zur med. Einstellung in Weinsberg gewesen war, und sagte, dass die Station immer sehr voll belegt und das Personal am Rande der Überforderung gewesen sei. Sie hat viel mitgeholfen und auch als einzige bemerkt, dass die Schwiegermutter nach einem Sturz aus dem Bett Schmerzen hatte, die Pflegerinnen meinten, das gehe bald vorbei. Meine Kollegin veranlasste eine Untersuchung, die ergab, dass der Oberschenkel gebrochen war. 
Das erinnerte mich an meine Erfahrungen im Krankenhaus, wo es wegen der Überforderung eigentlich sehr hilfsbereiter Schwestern geschehen konnte, dass mein Vater übers Bettgitter kletterte und im Zimmer herumlief (hoch sturzgefährdet), obwohl ein Bettnachbar sofort und mehrfach nach der Schwester geklingelt hatte. Ich kam zufällig gerade da von einem kurzen Spaziergang zurück und musste die Schwester selber suchen gehen. (Das war übrigens eine spezielle geriatrische Station, wo immer mit Weglaufen oder unkontrolliertem Verhalten der Patienten zu rechnen ist, und es war bekannt, dass mein Vater dement und weglaufgefährdet ist).
Der langen Rede kurzer Sinn: ich habe in Weinsberg angerufen, einem Arzt die Situation kurz erklärt und gesagt, ich möchte gerne noch einige Tage zuwarten, ob es nicht doch von selber, ohne Medikamente, ausgeruht und mit dem, was ich inzwischen über das Vermeiden aggressiver Reaktionen gelernt habe, besser würde. Der Arzt reagierte erst ziemlich barsch, ließ sich dann aber doch auf meine Bitte um Verständnis ein und meinte, wenn es dann doch nicht gut gehe, solle der Hausarzt eben nochmal anrufen.
Lieber Herr ...(s.o.), nehmen Sie mir dieses „Rumeiern“ bitte nicht allzu übel, ich merke einfach erst allmählich, wie ich mit meinem Vater umgehen muss, damit er sich möglichst sicher fühlt und dann auch besser schlafen und mir vertrauen kann. In den letzten Tagen und nachdem ich mich mal ausgeschlafen hatte, habe ich viel gelernt, auch durch ein paar gute Internetseiten. Mir ist klar, dass es auch ohne durchwachte Nächte schwierig werden kann, und die Notwendigkeit ständiger Überwachung zuhause ist kein Dauerzustand. Ich habe meinen Vater sowohl im ... (Pflegeheim mit Demenzschwerpunkt) als auch im ...(anderes Pflegeheim) vormerken lassen. Und ich werde mich bei der Diakoniestation, von der ich schon einige Hilfe bekommen habe, beraten lassen, wie ich Entlastung bekommen kann (z.B. tageweise Betreuung), damit wir auch als Familie wieder etwas mehr Freiraum bekommen.

Nun werde ich sehen, wie es übers Wochenende geht. Falls Sie in der nächsten Woche ein kleines „Zeitfenster“ offen haben, wäre ich froh, wenn Sie mal bei uns hereinschauen könnten. Einfach, um den Allgemeinzustand zu beurteilen (z.B. evtl. Austrocknung und die immer noch nicht ganz verheilte Kopfwunde, die er sich leider nachts aufgekratzt hat).

Vielen Dank für Ihre Geduld und herzliche Grüße,
                                                     Ihre Brigitte ...(amselgesang)


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Bei den Pflegeheimen geht nichts unter einem halben Jahr, deshalb die Voranmeldung. Man wird benachrichtigt, wenn ein Zimmer frei wird, und kann dann entscheiden. Für uns ist es eine Absicherung, falls es mit der Pflege hier im Haus zu schwierig wird. Der heutige Tag verlief übrigens ruhig. Ich lerne ständig dazu.

Dienstag, 19. Juli 2016

Wechselbäder


Erst einmal möchte ich allen, die mir per Kommentar oder Mail ihre Anteilnahme gezeigt oder auch still mitgelesen und -gefühlt haben, ganz herzlich danken. Auch das gelegentliche Lesen in euren Blogs hat in den letzten Tagen und Wochen so manches Mal dazu beigetragen, dass die Decke blieb, wo sie hingehört, und mir nicht allzu sehr auf den Kopf gefallen ist. Ohne meinen Mann wäre ich aufgeschmissen, ohne den Sohn würde ich weniger lachen, und ohne euch wäre die Welt um einiges "enger", wenn ihr wisst, was ich meine.
Ihr ermahnt mich, auch an mich selber zu denken. Ich weiß wohl, wie wichtig das ist, und gönne mir (oder: mein Mann gönnt mir) immer wieder kleine Auszeiten, z.B. fürs Freibad: abends mit dem Rad hin, ein halbe Stunde lang immer eine Bahn Brust, eine Rücken - dann spüre ich den Sommer auf der Haut und fühl mich stark. 
Anders als im Freibad waren bis jetzt zu Hause eher Wechselbäder an der Tagesordnung. Einerseits, was das Befinden meines Vaters betrifft - wenn ich es in einer Kurve darstellen sollte, würde es gewissen Börsenkursen ähneln: immer auf und ab, aber leider insgesamt eher nach unten weisend. 
Andererseits auch tägliche Stimmungs - Wechselbäder: ruhige und aufgeregte Phasen, Bitte um Hilfe und heftiger Widerstand gegen "Bevormundung", still-melancholische Zwiegespräche und Anfälle von Misstrauen mit schlimmen Vorwürfen und Beschimpfungen, Wortschwälle und Sprachverwirrung wechseln in völlig unvorhersehbarer Folge. 
Dazwischen Lichtblicke: Kleine, sehr langsame Spaziergänge, Kirschen essen auf der Terrasse, unverhoffte, unbeholfene Zärtlichkeiten: ein Händedruck, ein Knietätscheln. 
Verschlossene Türen wie z.B. die zum Keller (ach, hätte ich sie doch in jener schlimmen Nacht auch abgeschlossen!) lösen großen Ärger aus. Die Wirklichkeit wird immer mehr von Traumbildern und - teils verzerrten - Erinnerungen überlagert. 
Und leider wird die Nacht immer mehr zum Tage. Der Hausarzt ließ uns ein Neuroleptikum ausprobieren, das Wahnvorstellungen und psychotischen Zuständen entgegenwirken soll. Es ist sicher ein bewährtes Mittel, aber was im Beipackzettel als mögliche unerwünschte Wirkung steht, trat prompt ein: es wirkte genau entgegengesetzt, und eine solche Nacht möchte ich nie wieder erleben! 
Ein Beruhigungsmittel tat dagegen seine Wirkung in einer Situation gestern, als ich ihn am Hinauslaufen auf die Straße (ohne Kleider!) hindern musste, was nicht ohne Handgreiflichkeit zu machen war und ziemliche Aggressionen auslöste. Als die Wirkung abends nachließ und wieder große Unruhe auftrat, gab ich ihm noch eine Dosis, was bewirkte, dass er zwar nachts zu schwach und gedämpft war, um übers Bettgitter steigen zu können. Er hat es aber die ganze Nacht lang versucht... Und er war immer noch stark genug, um meine Bemühungen, ihm wieder zu einer Längs- statt Querlage im Bett zu verhelfen, scheitern zu lassen.
Heute morgen war er total übermüdet, konnte aber dennoch nicht einschlafen, weil die motorische Unruhe nicht nachließ. Er lief herum trotz Muskelschwäche und Gleichgewichtsstörungen, sodass man immer nebenherlaufen musste. Die Sprache war ein kaum verständliches, wirres Murmeln. Ich war am Ende meiner Kräfte, gab ihm in meiner Verzweiflung eine halbe Schlaftablette, überließ meinem Mann die Bewachung und bat den Hausarzt um ein Gespräch. Er sagte dasselbe, was meine Schwester schon zuvor am Telefon gesagt hatte: zumindest im Moment geht es so nicht mehr weiter. Zu Hause. Sein Rat war, in der gerontopsychiatrischen Abteilung des hiesigen psychiatr. Klinikums stationär eine medikamentöse Einstellung vornehmen zu lassen. Er versicherte mir, dass man tagsüber jederzeit Besuche machen kann, was ganz wichtig für meinen Vater ist, denn diese ungewohnte Umgebung wird ihm, zumindest am Anfang, große Angst einjagen, wie ich aus Erfahrung weiß. 
Am Donnerstag ist es soweit, und wenn ich daran denke, werde ich ganz zittrig. Der Kopf weiß, dass es sein muss, aber das Herz - ihr wisst schon. Das Ganze kann mehrere Wochen dauern.
Heute abend werde ich ihm nun doch ein Schlafmittel geben. Ich nehme an, dass das wirkt, ich hätte es allerdings gerne vermieden, zumal solche Medikamente ohnehin nicht für eine längerfristige Behandlung geeignet sind. Aber ich muss einfach selber mal wieder durchschlafen. Ich hoffe, dass es gutgeht und die Nebenwirkungen nicht zu massiv sind. Es ist nach wie vor ein schlimmes Gefühl für mich, das arme, geschundene Gehirn meines Vaters diesen chemischen Stoffen auszusetzen, die irgendwas mit ihm machen und ihn nicht "er selber" sein lassen. Aber es geht nicht anders, und ich hoffe nur, dass ihm in den nächsten Wochen geholfen werden kann, um wieder in ruhigeres Fahrwasser zu kommen. Ob nun zu Hause oder in einem Heim... ach ja, vielleicht geht auch das nicht anders.  
Vielleicht aber doch.

Stand der Dinge kurz vor Mitternacht: Ich habe ihm die Tablette um 19.15 Uhr gegeben. Bis jetzt ist nicht an Schlaf zu denken. Er bekommt die Augen nicht zu (aber auch nicht richtig auf), ist bis 22 Uhr schwankend und wackelig durch die Wohnung getigert, ließ sich nicht stoppen, liegt jetzt alles andere als entspannt, sondern mit einer "zwanghaften" Bewegungsunruhe im Bett und redet mit schwerer Zunge alles mögliche, wovon das Wenigste zu verstehen ist. Von Zeit zu Zeit antworte ich in beruhigendem Ton etwas halbwegs passend Scheinendes. Ob wohl noch ein paar Mützen Schlaf drin sind heute nacht...??





Mittwoch, 6. Juli 2016

Unruhenächte

Gestern habe ich unter dieser Überschrift einen ellenlangen Post-Entwurf geschrieben, d.h. er wurde immer länger und länger, obwohl ich das gar nicht vorgehabt hatte. Irgendwann habe ich gemerkt, dass das kein blog-geeigneter Text wird - und umso hemmungsloser weitergeschrieben. Als "Entwurf" bleibt er hier gespeichert, aber da mein Blog nicht nur ein privates Tagebuch ist und ich nun schon angefangen habe, meine Erfahrungen mit der Krankheit meines Vaters ein Stück weit hier zu teilen, möchte ich dies auch weiterhin tun. Und ich werde es eher sachlich tun, denn meine Gefühle fahren zur Zeit oft Achterbahn, und es ist mir unmöglich, sie zugleich authentisch und doch im formalen Rahmen eines normalen Blogeintrags in Worte zu fassen ("Pünktchen", das kannst du besser als ich...!). Vielleicht könnt ihr zwischen den Zeilen etwas davon lesen.


So ruhig die Tage meist sind - zumindest die Vormittage, denn da schläft mein Vater nach der Morgentoilette und einem kleinen Frühstück im allgemeinen bis zum Mittagessen und danach auch nochmal eine Runde -, so unruhig sind derzeit die Nächte. Leider.
Seit mein Vater vor gut sechs Wochen aus der Klinik entlassen wurde, habe ich jede Nacht unten bei ihm, im Nebenzimmer, geschlafen, mit offener Türe und "Hasenohren" (wie damals mit den  kleinen Kindern...). Solange er noch zu schwach war, um selbständig aufzustehen, und überhaupt sehr, sehr müde, hatte er einen Schlafrhythmus wie ein Säugling: drei, vier Stunden schlafen, aufwachen, rufen, etwas trinken und evtl. eine Kleinigkeit essen, weiterschlafen. Im Schlaf erlebt er allerdings immer aufregende, teils auch wirklich schreckliche Dinge, die er nicht von der Wirklichkeit unterscheiden kann und dann erzählen und besprechen muss. Ganz schwierig wird es, wenn er von mir verlangt, mich z.B. um "die armen verletzten Menschen" zu kümmern - und wenn ich dann versuche ihm zu erklären, dass da keine verletzten Menschen sind, wird er sehr ärgerlich und macht mir schwere Vorwürfe... Das hieß anfangs, ein oder zwei Mal in der Nacht aufstehen und sich dem stellen, versuchen zu beruhigen. Dann kamen zwei Wochen mit ruhigeren Nächten, mit einem oder sogar keinem Aufwachen und leichtem Wiedereinschlafen, sehr regelmäßig. Ich dachte schon, jetzt könnte ich mit einer "Überwachung" per Babyphon beginnen und so auch mal wieder ins eigene Bett kommen (dass auch "Herr Amselgesang" sich darüber gefreut hätte, brauche ich wohl nicht extra zu sagen).  :-)


Mit zunehmender Beweglichkeit (in engem Rahmen, aber immerhin) wuchs aber auch die nächtliche Unruhe - wohlgemerkt, nur nachts. Tagsüber schläft er immer noch vom Frühstück bis zum Mittagessen und dann nochmal ein, zwei Stunden. Dann werden die Intervalle kürzer, und mein "Wachhalteprogramm" beginnt: eine halbe Stunde auf der Terrasse sitzen, am Tisch beim Johannisbeeren-Abzupfen helfen, Apfelschnitze oder Kirschen essen, ein bisschen reden... alles macht ihn bald müde, und er will wieder liegen und dösen. Spätestens um halb zehn geht er dann "richtig" ins Bett und schläft bis irgendwann nach Mitternacht. Dann ist Schluss mit Schlafen - er ist wach. SEHR WACH! Und meist total daneben, verwirrt, ärgerlich, will aus dem Bett (und tut es auch, sogar übers Bettgitter), streitet mit mir, kommentiert meinen dringenden Wunsch, dass ich jetzt aber schlafen will, mit "Ach was, immer nur schlafen, schlafen! Hast du nichts zu tun?" und so weiter.


In dieser Situation kann es mir trotz allen Mitleids und aller inzwischen erworbenen Übung im Gelassenbleiben passieren, das mir der Kragen platzt. Einfach aus Müdigkeit, aus Ratlosigkeit und der Einsicht, dass ich überhaupt nichts tun kann, um diese Phase schneller zu beenden - er ist dann ganz in seiner eigenen Welt und kann nicht raus. Und ich nicht rein. Ich kann nur seufzend und augenreibend warten, bis es sich von selber beruhigt. Und dann versuchen, wieder einzuschlafen -  wenn nicht noch mehr Unterbrechungen kommen, geht das.


Mir ist inzwischen klar, dass man einen körperlich und geistig gebrechlichen alten Menschen nur zu zweit zuhause pflegen kann, alleine wäre es vollkommen unmöglich. Solange jemand total bettlägerig ist und gar nicht aufstehen kann, mag es gehen - da ist zwar die Körperpflege anstrengender, aber man hat doch die Sicherheit, dass nicht viel passieren kann, wenn man sich mal für eine Weile entfernt. Wenn ein dementer Mensch aber in der Lage ist, aus dem Bett zu steigen und (wackelig) herumzulaufen, zugleich jedoch keinerlei Gefühl hat für das, was ihm passieren kann, dann braucht die Betreuung mindestens zwei Personen. Wenn nicht mein Mann in Haus und Garten und auch beim Aufpassen auf den Schwiegervater so tatkräftig mit anpacken würde, könnten wir meinen Vater nicht hier behalten. Und wie lange wir es so schaffen, muss man noch abwarten - vor allem im Blick auf die Nächte.

Die bunten Muster entstanden beim Spielen mit Holzklötzchen, die in wunderschönen leuchtenden Farben lackiert sind und meinem Papa gehören. Ich wollte ihn gerne animieren, sich ein wenig damit zu beschäftigen, aber er hatte kein Interesse. Nachdem ich mehrere Muster in der Art der ersten drei Fotos gelegt hatte, meinte er: "Mach doch mal was Zentrales. Einen Stern oder so." Ich sagte listig: "Ob das überhaupt geht? Ich glaube nicht." Später sah ich ihn dann doch die Klötzchen sortieren - das Ergebnis sieht man auf dem letzten Bild. Ein Stern ist es nicht geworden, und es hat mich schon ein bisschen erschüttert, dass er es nicht schaffte, auch nur ansatzweise eine "Ordnung" hineinzubringen. Das mag nebensächlich erscheinen, aber wenn ihr meinen Vater kennen würdet, wüsstet ihr, dass es bei ihm nie ohne irgendein System, ein Gestaltungsprinzip abgehen würde, wäre er gesund. Schön ist es trotzdem, eigentlich viel schöner als meine braven Musterchen - erinnert ein bisschen an Paul Klee - , schön ist vor allem, dass er es überhaupt probiert hat (leider nur einmal).