Montag, 26. September 2016

h e i m g e h e n

Ja, das habe ich gestern geschrieben im letzten Satz, eine Stunde nach Mitternacht. Wohl wissend um die Doppeldeutigkeit dieses Wortes "heimgehen", aber nicht ahnend, dass der Abschied so nah sein könnte. Mein Vater hat es des öfteren gesagt, auch als er noch daheim war: "Ich will endlich heimgehen!" Wenn ich ihn dann daran erinnerte, er sei doch daheim, konnte er sagen: "Aber es fühlt sich nicht so an." 
In der Klinik benutzte er das Wort nur noch im Zusammenhang mit dem Schlafengehen, wenn er sehr müde war (meist schon vor dem Abendessen): "Ich will jetzt heim und ins Bett!"
Und in den letzten Wochen im Pflegeheim hatte ich das Gefühl, dass er keine wirkliche Vorstellung von "daheim" mehr hatte. Als er wieder einmal davon sprach, er wolle heimgehen, sagte ich: "Meinst du da, wo die Bethe ist?" (meine vor fünf Jahren verstorbene Mutter). Da nickte er: "Ja, da!" Ich glaube nicht, dass er da ans Sterben dachte, aber wohl an sein früheres Leben, das ihm jetzt wie eine verlorene Heimat erschien.
Von seinem Tod hatte er allerdings schon seit langem gesprochen und sich sehnlich gewünscht, endlich sterben zu können - eben, weil er sich im Leben nicht mehr daheim fühlen konnte.



Nur wenige Stunden, nachdem ich vom "Heimgehen" geschrieben habe, ist er heimgegangen. Nicht zu Hause in seinem eigenen Bett, wie er es sich eigentlich gewünscht hatte, aber doch ganz ruhig, im Schlaf. 
Und wir sind, nach dem ersten Erschrecken und den ersten Tränen (denen sicher noch weitere folgen werden), dankbar dafür, dass er so gehen durfte. So still und rasch, und vielleicht noch mit den Eindrücken eines wunderbaren kleinen Spaziergangs, den wir am Freitagnachmittag bei warmer Herbstsonne mit einem geliehenen Rollstuhl im benachbarten Park genossen haben, der auf der Anhöhe liegt und von wo man einen weiten Rundblick über Stadt, Land und Weinberge hat. Da meinte er, dies sei doch das schönste Fleckchen in der ganzen Stadt und er würde ganz gerne da wohnen...


Ich hoffe und glaube, dass er jetzt endlich da angekommen ist und wohnen darf, wo er sich so sehr hingewünscht hat. Im Licht, in der großen Liebe. Daheim.


Die Bilder sind von meinem Vater, sie sind vor ein paar Jahren entstanden, als er die "Enkaustik" entdeckt und damit experimentiert hat. Man arbeitet dabei mit Wachsfarbe und einem speziellen kleinen Bügeleisen.

Sonntag, 25. September 2016

Wie es weitergeht

Lange habe ich gewartet und gezögert mit dem Schreiben, wollte erst sehen, wie sich alles anlässt und ob es am Ende etwas Positives zu berichten gäbe. War so unsicher, ob es richtig ist, was ich tue - und so froh, eine Schwester zu haben, die mitdenkt und mitentscheidet und mit der ich mich einfach unglaublich gut verstehe.

Aber der Reihe nach. 

Zwei Wochen nach diesem Eintrag war klar, dass es mit meinem Vater doch nicht so weitergehen konnte. Ich war ständig mit heftig wechselnden Stimmungen und immer wieder mit - oft erschreckenden - Halluzinationen konfrontiert und konnte kaum etwas tun, um ihn da rauszuholen (außer einmal, als er überall Flammen sah und sehr aufgeregt war: da war er zum Glück gerade gut zu Fuß und wir setzten uns ins Auto und fuhren eine Weile durch die Gegend...). Es war psychisch und physisch ein dauerndes Auf und Ab. Ich sah ein, dass es ohne ein geeignetes Medikament nicht besser werden würde, und das konnte nur in der Klinik ausprobiert werden.
Also kam mein Vater nun doch in die Gerontopsychiatrie im Weißenhof-Klinikum. Ich mache es kurz: diese Station war das Beste, was uns in diesem Stadium passieren konnte. Hell und so wohnlich, wie es eben unter diesen Umständen möglich ist, mit freundlichem, hilfsbereitem Pflegepersonal, das sich Mühe gab, auf die Bedürfnisse der einzelnen Patienten einzugehen, und mit sehr gutem Essen (wichtig!!). Ich war jeden Tag einige Stunden dort und hätte nie gedacht, dass ich mich an einem solchen Ort so wohlfühlen würde - auch wenn die Sorge um meinen Vater groß war, aber er war hier am momentan richtigen Platz. Ich habe viel gelernt in diesen drei Wochen, worüber ich später mal noch mehr schreiben möchte. Und einige der Patienten sind mir mit ihrem auf je ganz eigene Weise sonderbaren Wesen ein bisschen ans Herz gewachsen...
Nach einer Woche wurde ich zum Arztgespräch gebeten und erfuhr, dass mein Vater nicht Alzheimer hat, sondern eine Lewy-Körperchen-Demenz. Diese Demenzform hat dieselben Ursachen wie Parkinson und es können auch ähnliche Symptome auftreten (die Verlangsamung der Bewegungen, die schwer beweglichen Finger waren ja schon zu sehen). Im übrigen hat er die typischen Symptome, und auch die Tatsache, dass er die bei Alzheimer üblichen Medikamente nicht verträgt, gehört zum Krankheitsbild. Ein einziges Medikament wirkt ganz gut (Quetiapin), indem es die Heftigkeit der Halluzinationen etwas mildert. Aber leider gibt es keine Möglichkeit, etwas gegen die nächtliche Unruhe zu tun. In der Klinik wurde mein Vater nachts fixiert (mit einem sog. "Kombifix", der Hände und Füße freilässt). Der Arzt sagte, ich solle es mir gut überlegen, ob ich es unter diesen Umständen wirklich mit häuslicher Pflege versuchen wolle - er kenne keinen solchen Fall bei dieser Diagnose.
Meine Schwester und ich haben alle Möglichkeiten durchgesprochen. Der springende Punkt war letztlich die Tatsache, dass es wegen der Nächte nicht gehen würde. Auch mit Fixierung (was ich sehr ungern getan hätte) muss man regelmäßig nach dem Patienten schauen. Und ohne hätte ich weiterhin neben ihm schlafen und ebenfalls mehrmals pro Nacht aufstehen müssen.
Es grenzt an ein Wunder, dass wir in dieser Situation ganz kurzfristig nicht nur einen Pflegeplatz bekamen, sondern dass dieser auch in einem der drei Häuser ist, auf die ich für diesen Fall gehofft hatte. Mein Vater ist dort auf einer geschlossenen Station, es geht ihm - nun ja, gut wäre nicht das richtige Wort, aber besser als wir zu hoffen gewagt hätten. Er wird nicht fixiert, worüber er froh ist. Die Sturzgefahr ist natürlich da, aber es gibt dort keine Treppen und Stolperfallen wie zu Hause, weglaufen geht auch nicht, und die Nachtwache schaut oft herein. Mit dem Eingewöhnen wird es noch dauern, aber wir haben jetzt einen Rollstuhl bekommen, so dass wir raus in den Park gehen können und demnächst auch mal hierher nach Hause (ob er es wiedererkennt? ich bin gespannt). Als ich mich heute abend verabschiedete: Ade, Papa, ich gehe jetzt heim! fragte er: Heim... wohin?
Heimgehen dürfen - das wünschen sie sich, glaube ich, alle.  
 

Freitag, 2. September 2016

Von der Kunst, einen Kirschjoghurt zu essen

So ein Joghurt im Becher ist eine feine Sache: kühl und fruchtig, cremig und leicht zu löffeln und zu schlucken - das geht immer, auch wenn man von der Nudelsuppe Hustenanfälle bekommt und das Wurst- oder Käsebrot einfach nicht so recht runterrutschen will.
Dachte ich bis jetzt.
Inzwischen weiß ich, dass es für manche Menschen eine ganz schön schwierige Übung ist. Für meinen Vater zum Beispiel. Manchmal. Öfter.
Da muss man erst den Becher in die linke Hand nehmen - nicht oben und unten greifen, sondern die steifgewordenen Finger rund um die Bechermitte legen. 
Dann den Löffel irgendwie mit drei Fingern der rechten Hand festhalten, so dass die Wölbung nach unten und das Ganze Richtung Joghurtbecher zeigt. Man hat es vor sehr langer Zeit einmal gelernt und fast neunzig Jahre lang problemlos praktiziert, ohne je darüber nachzudenken. Nun muss man versuchen, es nicht ganz zu ver-lernen.
Die größte Herausforderung besteht nun darin, den Joghurt auf den Löffel und den Löffel in den Mund zu bekommen, ohne dass dabei Becher und Löffel in eine allzu heftige Schieflage geraten. Auch wenn es dabei auf ein paar Flecke gewiss nicht ankommt. 
Und man möchte diese komplexe Übung natürlich alleine schaffen, weshalb die ab und zu helfend eingreifenden Tochterfinger nur mit leisem Brummen akzeptiert werden.
Letztlich hat man es geschafft, sehr langsam und geduldig. Und die Tochter freut sich, dass man überhaupt Appetit hatte und nicht gesagt hat: "Das bringt mir doch nichts..."

 
Dieses Buch hat mir zu Beginn dieser "akuten" Phase nach dem Sturz meines Vaters viel gebracht. Inzwischen ist einiges geschehen, es gab Veränderungen und manche unvorhersehbaren Wendungen. Ich werde darüber berichten.

Aber jetzt geht es erst einmal in den Urlaub - mein erster seit zwei Jahren. Für meinen Vater ist gesorgt, meine Schwester hütet das Haus und wird ihn täglich besuchen - und Familie amselgesang, Eltern plus ein Sohn, fliegt heute nacht für zehn Tage nach ISLAND!!! Mit Mietwagen rechts um die Insel rum nach Norden bis zu diesem schönen wilden Fleckchen. Ich kann gar nicht sagen, wie ich mich drauf freue... Machts gut und habt es gut, bis bald!   :-)