"Ich lerne viel", habe ich in einem der letzten Posts geschrieben. Das ist kein Wunder, wenn man täglich intensiv mit einer neuen Situation umgehen, auf ständig wechselnde und unvorhersehbare Ereignisse und Stimmungen reagieren muss und dabei erst allmählich herausfindet, wie das alles zusammenhängt und zustandekommt. Welches Verhalten welche Reaktion hervorruft. Wie die veränderte, verfremdete Wahrnehmung eines eigentlich vertrauten Menschen die ganze Kommunikation mit ihm verändert.
Manchmal geschieht allerdings doch so etwas wie ein kleines Wunder, das ein ganz neues Licht auf den mühsamen Alltag mit einem Menschen wirft, der aus der Normalität und aus seiner Vertrautheit mit seinem Leben herausgefallen und dadurch zutiefst verunsichert und deprimiert ist. Ein kleines Wunder, das zeigt, wie viel seelische Kreativität trotz des unaufhaltsamen Verfalls noch in ihm steckt.
Es hat ja eine ganze Weile gedauert, bis ich begriffen habe, dass es gar nichts hilft, einem dementen Menschen seine irrealen Vorstellungen ausreden oder ihm gar das Gegenteil beweisen zu wollen. Ein kleines Beispiel:
"Wo sind wir hier eigentlich? Ich will endlich wieder nach Hause!"
"Papa, das ist doch unser eigenes Haus!"
"Ach was, so ein Blödsinn! Das ist doch nicht mein Haus!"
"Schau mal, da sind doch deine Möbel - deine Bücher - deine Bilder..."
"Ja, das finde ich also schon empörend, dass die das alles geklaut haben!"
(Ich überspringe einen Teil des sinnlosen Dialogs-)
"Papa, weißt du was? Wir gehen jetzt mal zur Haustür und schauen, was auf dem Klingelschild steht. Da steht doch immer der Name von den Leuten, denen das Haus gehört."
"Ja, gut, das machen wir."
Wir gehen hin und lesen, was auf dem Schild steht.
"Schau, Papa: das ist dein Name. Und das da ist meiner."
Kurze Pause. Dann Entrüstung: "Also - das ist aber wirklich allerhand...!!!"
Was in dieser Szene eher humoristisch wirkt, führte in anderen Fällen oft zu richtigem Streit. Er bestand darauf, dass ich über irgendwelche Dinge Bescheid wissen müsse, die er geträumt oder halluziniert hatte. "Aber du warst doch selbst dabei!" Wenn ich dann beteuerte, ich wisse davon nichts, dachte er, ich verschweige ihm etwas. Ich habe viel zu lange nicht kapiert, dass ich diese Konfrontationen nicht gewinnen kann und dass mein Vater daraus nur den Schluss zog, dass ich gegen ihn sei.

Wieder einmal war ich in so eine "Falle" getappt und wir waren beide erschöpft von einem längeren Wortwechsel. Plötzlich schaute er mich aufmerksam an und sagte: "Wer sind Sie denn?" Ich dachte: o je, jetzt fängt das an, dass er mich nicht mehr kennt! Während ich noch verwirrt schwieg und überlegte, was ich sagen sollte, fragte er: "Kennen Sie meine Tochter? Die Brigitte?" - "Ähm- ja, die kenne ich..." - "Das ist eine ganz Schlimme, wissen Sie. Die ist immer so von oben herab, eiskalt, kommandiert mich ständig rum... gerade war sie noch da!"
Es entspann sich ein Gespräch, in dem ich versuchte, mitzuspielen, ohne geradezu lügen zu müssen. Es war aber gar nicht so schwierig, es hatte wirklich was von einem Spiel, obwohl mein Vater es sichtlich ganz ernst nahm. Die vorherige Aufregung war ganz weg, auch ich war erleichtert und froh über die Rolle, die er mir so unverhofft zugedacht hatte. Wir saßen nebeneinander auf dem Sofa, er war sehr zutraulich und lieb und erzählte mir aus seinem Leben. Freute sich, als ich auf seine Frage antwortete, dass ich seine Frau gut gekannt habe. Er ging bald zum Du über, was es mir leichter machte. Schließlich die Frage, wo ich denn wohne? - "Ich... also ich wohne hier im Haus." Große Verwunderung: "Wenn man das früher gewusst hätte - da hätte man ja alles mögliche zusammen machen können... Das ist aber schade!"
Schließlich wurde er müde und wollte sich hinlegen. Als ich ihn zum Bett begleitete, drehte er sich plötzlich zu mir um und sagte: "Wo ist sie denn hin?" - "Wer denn, Papa?" - "Na, die - die gerade hier war - hast du sie nicht gesehen?" - "Mhmm - nein, ich glaube nicht...". Er schaute sich im Zimmer um und rief: "Rosa! Roosaa - jetzt ist sie nicht mehr da!" - Ich, ehrlich überrascht: "Ach, Rosa heißt sie?" Er nickte. Ich sagte: "Die kommt bestimmt mal wieder." Dann legte er sich hin und schlief ein.
Und ich, ich war wie - verzaubert. Ich konnte nur staunen: Wie er uns aus der verfahrenen Situation herausgeholt hatte, bestimmt ganz unbewusst, aber mit traumwandlerischer Sicherheit. Wie er es fertiggebracht hatte, mich so zu "verwandeln", dass er mich wieder mögen konnte. Mehr noch: Er hatte mir gezeigt, wie er mich brauchte. Er hatte mir beigebracht, wie man mit ihm umgehen muss. Er hatte mich gelehrt, was wirklich wichtig ist, nämlich dass ich ihn so sein lasse, wie er jetzt nun mal ist, und nicht versuche, ihn zu belehren über eine Welt, die ihm fremd geworden ist.

Und nun versuche ich eben, etwas mehr "Rosa" zu werden. Sie gefällt mir gut, muss ich sagen! Brigitte spricht schnell und bewegt sich rasch - Rosa redet ziemlich langsam und fast ein bisschen fragend, und ihre Bewegungen sind ruhig und sachte. Die "Hoppla-jetzt komm-ich" - Art, welche Brigitte leider manchmal an sich hat, ist ihr ganz fremd. Wo Brigitte in gewissen Situationen hektisch ruft: "Neiiin, Papa, doch nicht hier!!!", bleibt Rosa ganz gelassen und holt den Wischlappen. Und anstatt irrationale Aussagen zu kommentieren, macht sie oft nur "mmmhhh..." oder "aha!" oder "o je!".
Das Beste ist, dass ich mich gar nicht so sehr verstellen muss, um "Rosa" zu sein. Sie ist ja eigentlich schon in mir drin, ich muss ihr nur öfter die Führung überlassen. Sie tut mir gut, die Rosa, und ich betrachte sie mittlerweile als ein sehr gelungenes Geschenk meines Vaters - auch wenn er sie inzwischen schon wieder vergessen hat.