Donnerstag, 31. Dezember 2015

Was war

Einen Blick zurück auf die letzten fünf Monate habe ich angekündigt. Wann, wenn nicht jetzt ist die richtige (na ja, man könnte auch sagen: die höchste...) Zeit dafür? Es wird ein eher knapper, sachlicher Blick werden, denn ich glaube nicht, dass ich all die Gefühle, die diese Zeit mit sich brachte, angemessen in Worte fassen kann. Jede, die Ähnliches erlebt hat, weiß, wie man sich fühlt, wenn ein sehr naher, vertrauter Mensch auf einmal anders wird, wenn Lebendigkeit in Mattigkeit, waches Interesse in Apathie, Schaffenslust in Depression umschlägt. Wenn ein Mensch, dessen untrüglichen Orientierungssinn man immer bewundert hat, sich plötzlich in seinem eigenen Haus nicht mehr zurechtfindet. Wenn er bei der Nachricht vom Tode eines Bekannten sagt: "Der hat's gut...!"


Den Kopf hat einer der Söhne in der Schule modelliert und dem Opa geschenkt

Mit meinem Vater habe ich genau so etwas erlebt. Ende Juli, Anfang August war das, in diesen heißen Wochen, die ihm besonders zu schaffen machten, weil er Hitze nicht  besonders gut verträgt. Ein Infekt hatte am Abend und in der Nacht mehrmaliges heftiges Erbrechen ausgelöst, so dass ich am nächsten Morgen mit ihm zum Arzt fuhr. Er bekam eine Infusion gegen die Austrocknung und durfte wieder nach Hause. Im den folgenden Tagen und Wochen war er sehr, sehr schwach und verwirrt. Es war für mich ein Schock und fast unbegreiflich, dass ein Mensch von zwar 89 Jahren, aber bis dahin für sein Alter noch recht fit und bei gutem Verstand, so plötzlich dement und völlig pflegebedürftig werden konnte.





Es waren anstrengende Wochen mit sehr unruhigen Nächten, alles war neu für mich und der ganze Tagesablauf musste daraufhin eingeteilt werden, dass mein Vater mich rund um die Uhr brauchte. Alles andere - Ferienpläne, Arbeitsvorhaben im Haus und auch dieser Blog - war unwichtig geworden. Meine Gedanken kreisten um die Herausforderungen dieses neuen Alltags und darum, was das für die Zukunft bedeuten würde. Ich hatte immer gewusst, dass ich meinen Vater, falls nötig, pflegen wollte. Aber ich hatte mir nie ausgemalt, dass das heißen könnte, wochenlang jede Nacht drei-, viermal aufzustehen und einem hilfsbedürftigen Menschen beizustehen.
Wunderbarerweise wurde mir die Entscheidung: "Pflegeheim oder zu Hause behalten" letztlich doch erspart.



Es ist für mich immer noch erstaunlich und fast unbegreiflich, dass im Laufe des Herbstes sich nicht nur der körperliche, sondern auch der geistige Gesundheits- zustand meines Vaters wieder erheblich gebessert hat. Er bekam wieder Appetit. Wurde ganz allmählich wieder etwas selbständiger in den täglichen Verrichtungen. Stieg eines schönen Tages mühsam wieder die Treppe hinauf. Kämpfte darum, seinen Herd wieder bedienen und die Zeitung lesen zu können. Fand ganz, ganz langsam in die Zeit zurück. Wir konnten wieder kleine Spaziergänge machen, inzwischen sogar ab und zu kleinere Ausflüge. Im November waren wir zusammen in dieser Ausstellung - nie hätte ich gedacht, dass so etwas noch einmal möglich sein würde! Und es hat ihm Spaß gemacht, auch wenn er danach recht müde war.


Inzwischen hat sich unser Alltag eingependelt. Mein Vater hat sich einiges von seiner Eigenständigkeit zurückerobert, braucht allerdings in vielem weiter Unterstützung, die ich ihm aber gerne gebe. Ich bin so dankbar, dass wir ihn bei uns behalten konnten. Es ist nicht mehr ganz wie vorher, er hat sich verändert. Eine gewisse Desorientierung oder auch merkwürdige irreale Vorstellungen treten phasenweise mal mehr, mal weniger auf, es gibt depressive Tage. Aber ich lerne mit der Zeit besser damit umzugehen, ich habe mich innerlich auf dieses Auf und Ab eingestellt und weiß, worauf ich achten muss, damit es ihm möglichst gut geht (z.B. genug trinken - ein ganz schwieriges Thema...).
Und nun geht das Jahr zu Ende und ich hoffe, dass uns das neue noch das eine oder andere schöne gemeinsame Erlebnis bringt. Für ein Jahr, in dessen Mitte man sich keinerlei derartige Hoffnungen mehr machen konnte, ist das ein guter Schluss.
Und so wünsche ich auch allen, die mich hier ab und zu besuchen, einen guten und gesegneten Anfang und viel Grund zur Freude im Neuen Jahr! Geht eurer Wege wohlbehütet, schaut gut nach euch. Bis dann!

5 Kommentare:

  1. ... das kostet die Bewältigung der eigenen Gefühle und die Kraft, Andere in ihrer Beeinträchtigung mit zu tragen. Beides miteinander braucht Mut. Ich wünsche Dir
    das alles und schöne Momente zum "Auftanken".
    Alles Gute für das neue Jahr.

    Beate

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  2. Liebe Brigitte,
    da werden mir wieder so viele Dinge bewußt, die ich auch immer noch nicht richtig verarbeitet habe.
    Und immer wieder denke ich, müssen wir den Moment genießen - in der nächsten Sekunde kann schon alles vorbei sein.
    Die letzten 2 Jahre haben mich sehr verändert, erst bei mir die Diagnose gutartiger Hirntumor, dann verstarb meine Mutter mit 70 Jahren ganz plötzlich und 10 Monate später mein Vater der auch erst 72 war. Ich konnte es kaum glauben und kam mir vor wie in einem schlechten Film.
    Aber man schafft es - das Leben geht weiter, und ich möchte mein Leben noch genießen und über das was alles passieren kann nicht nachdenken.

    Ich wünsche Dir und Deiner Familie
    ein wunderschönes 2016

    Ganz ganz liebe Grüße
    Birgit

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  3. Liebe Brigitte,
    ich weiss, es braucht viel (Seelen)Kraft, aber man denkt in "normalen" Tagen, was man alles für geliebte Mensche in Notfällen tun und opfern kann.
    Ich wünsche Euch ein wunderschönes 2016 und viele tolle Erlebnisse noch zusammen.
    Ganz liebe Grüsse aus Ungarn
    Betti

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  4. Liebe Brigitte, was Leben bedeutet, wissen wir zu oft nicht. Wie kostbar die glücklichen und gesunden Tage sind - wie lächerlich wir uns über Lapalien aufregen und darüber in Streit kommen - wie von einem Augenblick zum nächsten all die vermeintliche Sicherheit nichts wert ist, so haben auch wir es im Mai erlebt. Es scheint, 2015 war ein Jahr mit viel Leid. Zu vertrauen, dass wir unsere Lasten tragen können, es ist nicht immer leicht. Wir können mur vertrauen. Dein Vater und du, dass ihr euch habt, diese schweren Zeiten zusammen bewältigen konntet - es hat viel mit euch gemacht. Seid auch ihr behütet und geborgen, Birgit

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  5. Liebe Brigitte,
    ich wünsche dir viel Kraft, denn die braucht man, und Gelassenheit, die vielleicht noch mehr, um die Dinge nehmen zu können, wie sie sind. Das ist wahrlich nicht einfach. Ich habe mich sehr für euch gefreut, daß dein Papa sich auf wundersame Weise wieder so bekrabbelt hat - ein Wunder ist das für mich. Genießt die Zeit, die euch noch bleibt. Alles Gute für euch weiterhin.

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