Dienstag, 19. Juli 2016

Wechselbäder


Erst einmal möchte ich allen, die mir per Kommentar oder Mail ihre Anteilnahme gezeigt oder auch still mitgelesen und -gefühlt haben, ganz herzlich danken. Auch das gelegentliche Lesen in euren Blogs hat in den letzten Tagen und Wochen so manches Mal dazu beigetragen, dass die Decke blieb, wo sie hingehört, und mir nicht allzu sehr auf den Kopf gefallen ist. Ohne meinen Mann wäre ich aufgeschmissen, ohne den Sohn würde ich weniger lachen, und ohne euch wäre die Welt um einiges "enger", wenn ihr wisst, was ich meine.
Ihr ermahnt mich, auch an mich selber zu denken. Ich weiß wohl, wie wichtig das ist, und gönne mir (oder: mein Mann gönnt mir) immer wieder kleine Auszeiten, z.B. fürs Freibad: abends mit dem Rad hin, ein halbe Stunde lang immer eine Bahn Brust, eine Rücken - dann spüre ich den Sommer auf der Haut und fühl mich stark. 
Anders als im Freibad waren bis jetzt zu Hause eher Wechselbäder an der Tagesordnung. Einerseits, was das Befinden meines Vaters betrifft - wenn ich es in einer Kurve darstellen sollte, würde es gewissen Börsenkursen ähneln: immer auf und ab, aber leider insgesamt eher nach unten weisend. 
Andererseits auch tägliche Stimmungs - Wechselbäder: ruhige und aufgeregte Phasen, Bitte um Hilfe und heftiger Widerstand gegen "Bevormundung", still-melancholische Zwiegespräche und Anfälle von Misstrauen mit schlimmen Vorwürfen und Beschimpfungen, Wortschwälle und Sprachverwirrung wechseln in völlig unvorhersehbarer Folge. 
Dazwischen Lichtblicke: Kleine, sehr langsame Spaziergänge, Kirschen essen auf der Terrasse, unverhoffte, unbeholfene Zärtlichkeiten: ein Händedruck, ein Knietätscheln. 
Verschlossene Türen wie z.B. die zum Keller (ach, hätte ich sie doch in jener schlimmen Nacht auch abgeschlossen!) lösen großen Ärger aus. Die Wirklichkeit wird immer mehr von Traumbildern und - teils verzerrten - Erinnerungen überlagert. 
Und leider wird die Nacht immer mehr zum Tage. Der Hausarzt ließ uns ein Neuroleptikum ausprobieren, das Wahnvorstellungen und psychotischen Zuständen entgegenwirken soll. Es ist sicher ein bewährtes Mittel, aber was im Beipackzettel als mögliche unerwünschte Wirkung steht, trat prompt ein: es wirkte genau entgegengesetzt, und eine solche Nacht möchte ich nie wieder erleben! 
Ein Beruhigungsmittel tat dagegen seine Wirkung in einer Situation gestern, als ich ihn am Hinauslaufen auf die Straße (ohne Kleider!) hindern musste, was nicht ohne Handgreiflichkeit zu machen war und ziemliche Aggressionen auslöste. Als die Wirkung abends nachließ und wieder große Unruhe auftrat, gab ich ihm noch eine Dosis, was bewirkte, dass er zwar nachts zu schwach und gedämpft war, um übers Bettgitter steigen zu können. Er hat es aber die ganze Nacht lang versucht... Und er war immer noch stark genug, um meine Bemühungen, ihm wieder zu einer Längs- statt Querlage im Bett zu verhelfen, scheitern zu lassen.
Heute morgen war er total übermüdet, konnte aber dennoch nicht einschlafen, weil die motorische Unruhe nicht nachließ. Er lief herum trotz Muskelschwäche und Gleichgewichtsstörungen, sodass man immer nebenherlaufen musste. Die Sprache war ein kaum verständliches, wirres Murmeln. Ich war am Ende meiner Kräfte, gab ihm in meiner Verzweiflung eine halbe Schlaftablette, überließ meinem Mann die Bewachung und bat den Hausarzt um ein Gespräch. Er sagte dasselbe, was meine Schwester schon zuvor am Telefon gesagt hatte: zumindest im Moment geht es so nicht mehr weiter. Zu Hause. Sein Rat war, in der gerontopsychiatrischen Abteilung des hiesigen psychiatr. Klinikums stationär eine medikamentöse Einstellung vornehmen zu lassen. Er versicherte mir, dass man tagsüber jederzeit Besuche machen kann, was ganz wichtig für meinen Vater ist, denn diese ungewohnte Umgebung wird ihm, zumindest am Anfang, große Angst einjagen, wie ich aus Erfahrung weiß. 
Am Donnerstag ist es soweit, und wenn ich daran denke, werde ich ganz zittrig. Der Kopf weiß, dass es sein muss, aber das Herz - ihr wisst schon. Das Ganze kann mehrere Wochen dauern.
Heute abend werde ich ihm nun doch ein Schlafmittel geben. Ich nehme an, dass das wirkt, ich hätte es allerdings gerne vermieden, zumal solche Medikamente ohnehin nicht für eine längerfristige Behandlung geeignet sind. Aber ich muss einfach selber mal wieder durchschlafen. Ich hoffe, dass es gutgeht und die Nebenwirkungen nicht zu massiv sind. Es ist nach wie vor ein schlimmes Gefühl für mich, das arme, geschundene Gehirn meines Vaters diesen chemischen Stoffen auszusetzen, die irgendwas mit ihm machen und ihn nicht "er selber" sein lassen. Aber es geht nicht anders, und ich hoffe nur, dass ihm in den nächsten Wochen geholfen werden kann, um wieder in ruhigeres Fahrwasser zu kommen. Ob nun zu Hause oder in einem Heim... ach ja, vielleicht geht auch das nicht anders.  
Vielleicht aber doch.

Stand der Dinge kurz vor Mitternacht: Ich habe ihm die Tablette um 19.15 Uhr gegeben. Bis jetzt ist nicht an Schlaf zu denken. Er bekommt die Augen nicht zu (aber auch nicht richtig auf), ist bis 22 Uhr schwankend und wackelig durch die Wohnung getigert, ließ sich nicht stoppen, liegt jetzt alles andere als entspannt, sondern mit einer "zwanghaften" Bewegungsunruhe im Bett und redet mit schwerer Zunge alles mögliche, wovon das Wenigste zu verstehen ist. Von Zeit zu Zeit antworte ich in beruhigendem Ton etwas halbwegs passend Scheinendes. Ob wohl noch ein paar Mützen Schlaf drin sind heute nacht...??





10 Kommentare:

  1. Oje, Liebe, ich bin ganz bei dir mit meinen Gedanken und Gefühlen... Eben erst habe ich die Mandalas in deinem anderen Post entdeckt. So schön... Kleine Auszeiten für die Seele... Alles Gute für Donnerstag! Lieben Gruß Ghislana

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  2. Ich wünsche dir auch, dass schnell Donnerstag ist, denn warten ist schlimmer als agieren zu können.Es wird ein furchtbarer Tag.
    Die Klinik ist wirklich eine der führenden in Europa und es ist eine gute Möglichkeit,etwas abgeben zu können in andere Hände.Ich wünsche dir viel Vertrauen und die Gewissheit- ganz ohne Vorwurfsgedanken !- das Richtige zu tun.
    Ich denke an Euch.
    Herzliche Grüße,
    Angela

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    1. Ja, der "Weißenhof" hat einen guten Ruf (kennst du die Klinik persönlich?) und ich hoffe sehr, dass der Tag wenigstens in der Hinsicht kein ganz furchtbarer wird, dass ich mit einem guten Gefühl dort weggehen kann, was die "Menschlichkeit" von Ärzten und Pflegepersonal angeht.

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  3. Viel Kraft🐞💕🌹 Das wünsche ich Dir!
    Denke daran, alleine schaffst du es nicht mehr, nimm die Hilfe an, aus Liebe zu deinem Vater.💟🐞💕🌹💑
    Sei lieb gegrüsst von Bea

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  4. Oh, liebe Brigitte...
    jetzt weiß ich gar nicht, wie ich's sagen soll... Also, die Behandlung in der Klinik wird ungefähr 3 Wochen dauern. Wieviel Mühe man sich mit der med. Einstellung gibt, hängt ganz stark davon ab, ob dein Dad anschließend zurück nach Hause, oder ins Pflegebeim geht. In Letzteres werden Patienten aus der Gerontopsychiatrie häufig völlig zugedröhnt, handlungsunfähig und motorisch steif (= sturzgefährdet!) entlassen.
    Wenn Angehörige mit der Situation klarkommen müssen, gibt man sich meist mehr Mühe und auch der Kostenträger ist dann tolerater. Es geht letztlich leider doch immer um Geld. Viel zu wenig um den Menschen.
    Achte gut auf deinen Vater. Achte gut auf dich!
    Euch eine ruhige Vollmondnacht.
    Claudiagruß

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  5. Liebe Brigitte ich wünsche dir viel Kraft und das du bisschen zur Ruhe kommst. Es ist sicherlich nicht einfach den Vater in professionelle Hände zu geben aber manchmal hat man keine andere Wahl. Sei lieb gedrückt
    Papatya

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  6. Ihr habt die richtige Entscheidung getroffen und ganz besonders für die kommenden Stunden wünsche ich euch viel Kraft!

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