Freitag, 20. Juli 2012

Behindert?

   Ich habe das Glück, in meiner engeren Familie noch nicht viele Todesfälle erlebt zu haben, vor allem keine tragischen, keine Kinder oder jungen Menschen. Dafür bin ich dankbar. Da ich Orgel spiele, bin ich aber immer wieder bei Beerdigungen dabei.
   Vor kurzem erlebte ich nun einen ganz besonderen Trauergottesdienst, der mich tief berührte und nachdenklich machte. Ein körperlich und geistig behinderter 16jähriger Junge war gestorben. Die Eltern hatten sich gewünscht, dass er zu Beginn des Gottesdienstes im offenen Sarg in der Kirche aufgebahrt liegen sollte, was bei uns sonst nicht üblich ist. Ich war skeptisch, ob das eine gute Idee wäre, da auch Kinder dabei sein würden. Aber es war dann ganz anders, als ich befürchtet hatte.
   Außer den Angehörigen waren auch Schüler und Lehrer der Schule da, die der verstorbene Junge besucht hatte. Lauter "behinderte" Kinder. Sie hatten kleine Geschenke mitgebracht, selbstgemalte Bilder und Ähnliches, die sie ihrem toten Mitschüler in den mit bunten Blumen geschmückten Sarg legen durften. Eine CD mit Kinderliedern animierte einige zum Mitsingen. Ein größeres Mädchen fing irgendwann laut zu weinen an. Da hörte man auf einmal auch aus den Reihen der "nichtbehinderten" Trauergäste ein Schluchzen oder auch Seufzen, halblaute Worte, jemand legte den Arm um seinen Nachbarn, immer wieder gingen Leute nach vorne und streichelten den toten Jungen, manchmal lachte auch eines der Kinder, vielleicht weil gerade sein Lieblingslied lief. Das Ganze war sehr traurig und zugleich sehr liebevoll, eine ganz freie, spontane, zärtliche "Liturgie"  des Abschiednehmens, in diesem Fall wohl tröstlicher als jede Predigt.
   Dann wurde der Sarg geschlossen - ein schwerer Augenblick - und wer wollte, durfte noch einen letzten Gruß daraufschreiben oder -malen. Noch ein Lied, ein Gebet, der Segen und ein wenig Orgelmusik, dann war einer der bewegendsten Trauergottesdienste, die ich erlebt habe, zu Ende.
   Behinderte Kinder - ja, in ihrer Beweglichkeit und ihrem Denkvermögen vielleicht, aber im Spüren und Ausdrücken ihrer Gefühle sind sie uns "normalen", manchmal emotional ganz schön behinderten Leuten  oft weit voraus. Und sie schaffen es sogar, ihren nichtbehinderten Mitmenschen Mut zu machen, ihre Gefühle ein bisschen freier zu zeigen als allgemein üblich.

9 Kommentare:

  1. Liebe Brigitte,
    wie schön, wenn solche Trauerfeiern möglich sind! Ich erlebe das auch so, dass manche "Behinderte" in ihrem Gefühl und den Ausdruck dessen viel freier sind und wie ich finde, uns "Normalen" manches voraus haben. Diese Offenheit berührt mich oft sehr. Und es macht mir Mut, meine relative Offenheit zu zeigen. Bei mir als "Nichtbehinderte" wirkt das manchmal anscheinend genauso befremdlich, wie meist die Gefühlsregungen und der Ausdruck bei "Behinderten".
    Ein bewegendes Thema.
    Herzliche Grüße von Roswitha

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    1. Ja, ich denke, wir alle brauchen einander - jeder Mensch hat seine Handicaps, wo er Unterstützung braucht, und seine Stärken, mit denen er andere weiterbringen kann.
      Liebe Grüße, Brigitte

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  2. Liebe Brigitte,
    ein berührender Post. Vielen Dank fürs Teilen und Anteilhaben dürfen.
    Gleich zwei "mutige" Themen die Du ansprichst : Tod und Behinderung. Gerne totgeschwiegen in unserer Gesellschaft, wo alles heil, erfolgreich und schön sein MUSS.
    Wir könnten noch viel mehr lernen von jenen, die ihre Gefühle noch auszudrücken vermögen oder sich trauen, sie zu zeigen. Ob mit oder ohne Behinderung. An Deinem Beispiel zeigt sich mal wieder sehr deutlich, wer eigentlich wirklich behindert ist.
    Ansonsten ein wundervoller Beitrag zum Thema Tod und dem Umgang mit der Trauer.
    Dieses Tabuthema zu durchbrechen, gelingt nur durch solche Vor-Bilder und ich danke den betroffenen Eltern für ihren Mut, diesen Moment so öffentlich zu machen. Meine Hochachtung, mein Respekt.
    Einen dankbaren und herzlichen Gruß an Dich
    von Joona

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    1. Liebe Joona,
      danke für deine einfühlsamen Worte und Gedanken - da bin ich jetzt selbst wieder ganz bewegt drüber.Ich hab mir schon überlegt, ob das Thema jetzt hierher passt, so zwischen Himbeersirup und Sonntagsfreuden... aber das Leben ist so, und ich glaube, genauso möchte ich meinen Blog auch haben, so auf und ab an meinem Leben und Denken und Fühlen entlang.
      Hab eine gute Woche!
      Brigitte

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  3. Ich glaube, von solchen Menschen und von Kindern überhaupt kann man sich immer wieder neu die Augen öffnen lassen. Meine Älteste bringt mich mit ihren Vorstellungen immer wieder zum Staunen. Überhaupt kann man immer wieder lernen, nicht alles rational in Worte zu fassen, sondern einfach dem Wunder und auch dem Unerklärbaren Platz geben...
    übrigens: ich spiele auch Orgel :)
    Alles Liebe. maria

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    1. Ich habe so viel durch meine Kinder gelernt. Das hört auch nicht auf, wenn sie größer werden, seien es Gespräche über "Gott und die Welt" oder ein Computer-Crashkurs für die bloggen wollende Mama :)
      (Ich gehe sicher richtig in der Annahme, dass du die Aussprüche deiner Großen sorgfältig aufschreibst...).

      Herzliche Blogger- und kollegiale Organistengrüße! Brigitte

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    2. Habe eben erstmals dein Blog gefunden und lasse einen herzlichen Orgelspielgruss da. (Ich habe in "meinem früheren Leben" fünf Jahre Orgel studiert.)
      Danke, dass und wie du das Thema anschaust und ansprichst.
      Lieben Gruss
      Gabriela

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  4. Ich habe heute ein bisschen bei Dir geblättert und dann diesen Post gefunden. Danke dafür, auch dass Du zwischen Blumen, Freude, Himbeersirup genau übers Leben geschrieben hast. Es ist so seltsam wie sich wir Menschen manchmal begegnen, was es da für Netze gibt ...
    Als ich damals vom Unfall meines Bruders erfuhr war es heiss uns sommerlich wie heute. Und ... ich hatte mit Susanne Himbeeren gepflückt. Wir sassen da und überlegten ob wir Eis oder Sirup daraus machen ... dann kam dieser Anruf. Und alles war anders. Heute, wenn ich Himbeeren sehe muss ich ganz fest an Alfons denken. Und das lesen hier von Deinen Zeilen hat Herzklopfen gemacht.....
    Meine Cousine ist vor 10 Jahren auf dem Weg nach Berlin in einen Unfall gekommen. Sie war das Stauende .... ein viel zu schneller Autofahrer hat das nicht erkannt und ist ihr reingefahren. Sie wurde weit von der Autobahn geschleudert, überschlug sich mehrmals, obwohl ihr Auto damals schon stand! Ihre 12jährige Tochter sass neben ihr und war eingeklemmt und schrie immerzu: "Mama ist tot ...!" Die Rettungskräfte brauchten danach einen Seelsorger. Christine hat es nicht überlebt, die Tochter schon. Sie spricht nie über diesen Unfall ... fährt aber mittlerweile Motorrad, das macht ihren Papa und uns allen echt Angst!
    Heute fährt Michael nach Kempten, der grosse Sohn hat eine Abschlussfeier. Ich mag das gar nicht mehr, wenn einer von uns auf der Autobahn ist.
    Es ist so schön, dass ich Dein Blog gefunden habe.
    Noch ein Satz von meinem behinderten Robert: "Mama, wenn Onkel Alfons jetzt schon 8 Jahre im Himmel ist ... wer schneidet ihm da bloss die Haare?" oder, mein Bruder hatte einen eineiigen Zwillingsbruder: "Gut, dass wir immer wissen wie der Onkel ausgeschaut hat, hoffentlich stirbt der Onkel Joachim nicht auch noch!"
    Susanne würde sowas nicht (mehr) sagen. Wir "normalen" Menschen denken das aber auch. Als Robert diese Sätze sagte wurde mir bewusst, dass ich diese Gedanken schon lange denke!
    liebe Grüsse
    Elisabeth

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    1. *Es ist so schön, dass ich Dein Blog gefunden habe.*
      Das geht mir mit dem Deinen ebenso.

      Dein Robert ist wohl in manchen Dingen anders, besonders, auch schwierig - aber ganz bestimmt ist er in seinen Gedanken glasklar. Das "nicht Normale" ist halt, dass er sehr direkt sagt, was er denkt. Das könnte etwas sehr Wertvolles sein und die Menschen oft zum Nachdenken bringen, wenn sie es nicht abwehren würden.

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